Der 9. September 1893 darf als Geburtstag des FV 93
gelten. Die Gründungsversammlung fand in der kleinen Gaststätte „Zum
Becher" bei Gastwirt Fetzer in der Kernerstr. Nr. 8 statt. Es soll
festgehalten werden: Der FV 93 bildete keine Absplitterung vom
Cannstatter FC; seine Anfänge gehen vielmehr auf eine durchaus
selbständige, neue Vereinsgründung zurück. Es bestand zwischen den
beiden nunmehr in Cannstatt beheimateten Vereinen in der Folge auch
keinerlei ungesunde Rivalität. Im Gegenteil, man spielte bis 1897
einträchtig nebeneinander auf dem Wasen, man half sich gegenseitig
gelegentlich mit Spielern und Schiedsrichtern aus, und als der CFC Ende
der neunziger Jahre den Wasen endgültig räumen musste und davon in eine
schwere Krise geriet, bot ihm der FV 93 eine Zuflucht auf seinem
Spielplatz im Stöckach an!
Mit einem Mitgliederstamm von 20 Mann begann der Stuttgarter
Fußballverein 1893 seine Tätigkeit. Über den Zweck des Vereins gibt 5.1
der Ursatzung folgenden Aufschluss:
„Der Zweck des Vereins ist die körperliche Ausbildung seiner Mitglieder
durch Pflege und Verbreitung des Rugby-Fußballs und verwandter Spiele,
Veranstaltung von Wettkämpfen und Hebung der Kameradschaft durch
gesellige Zusammenkünfte."
Der erste Sportdress der 93er war geradezu romantisch: Weiße Hose,
weißer Sweater mit gelbem Stern auf der Brust, weiße Mütze (!) blau
eingefasst, mit gelbem Stern, nach Art der Rudermützen.
Im Gartensaal des Restaurants Röthle in der Archivstraße wurden die
Versammlungen abgehalten. Außerdem galt die Gaststätte und Bäckerei „Zur
goldenen Kanone" von Krapf - dem Krapfebäck - in der Fabrikstraße in
Cannstatt als Vereinslokal, denn dort hatten die 93er ihre Goalstangen
untergebracht, die vor dem Spiel auf den Wasen geschleppt und nachher
wieder zurücktransportiert werden mussten.
Fußbälle, Sweater, Fußballstiefel mussten von der Firma Steudel aus
Berlin bezogen werden, da es in jener Zeit in Stuttgart noch kein
Geschäft gab, das Sportartikel führte. Was war es jedes Mal für ein
Ereignis, wenn der Postbote das Paket mit dem in Berlin bestellten neuen
Ball brachte! Klopfenden Herzens standen die Jungen dabei, wenn das
Kleinod seiner Hülle entkleidet wurde und der neue Ball ans Tageslicht
kam! Wie ein kostbarer Schatz wurde er betrachtet und gehütet.
Lehrer Kaufmann übernahm die Leitung des Vereins. Er und die andern
Gründungsmitglieder haben es verdient, dass ihre Namen, soweit sie uns
noch bekannt sind, für die Nachwelt festgehalten werden. Mancher ist den
alten VfBlern noch
in frischer Erinnerung:
Alexander, Karl und Alfred Gläser, E. Betting, der
erste Kapitän der Mannschaft, K. Ehmann, Th. Haas, M. Fleischacker, die
beiden Brüder Grau, E. Maull, Th. Schätzle, O. Eggerth. Als Passive: C.
Kaufmann, A. Riese, A. Salomon.
In der kurze Zeit darauf ins Leben gerufenen
Jugendmannschaft spielten unter anderen Paul und Emil Breckle, H.
Betting, R. Fastnacht, R. Kunz, E. Zaiser. Etwas muss uns, die wir
gewohnt sind, dass gesetzte, im Sportleben erfahrene Männer die Leitung
der Sportvereine in Händen halten in Staunen und Bewunderung versetzen:
Wie diese durchweg jungen Menschen von damals, Vorstandsmitglieder im
Alter von 16 oder 17 Jahren, die vorgenommene Aufgabe meisterten. Über
die mangelnde Erfahrung hinweg half ihnen eine unbändige Begeisterung
für den Sport, ihre Hingabe an das junge Werk, das sich mehr und mehr
festigte, allen Schwierigkeiten trotzte und alle Stürme überstand.
Erstaunlich auch und höchster Anerkennung wert bleibt das Wirken des
ersten Vorstandes, C. Kaufmann, der als Lehrer trotz unverhohlener
Gegnerschaft des größten Teils seiner Zeit- und Berufsgenossen und trotz
Ablehnung der „englischen Fußball-Lümmelei" durch weite Kreise der
breiten Öffentlichkeit seinen Weg ging und ein Wegbereiter des
Fußballsports wurde.
Der Stuttgarter Fußball-Verein 1893 war von Anhängern
des runden Leders gegründet worden, und die ersten Wettspiele waren
Association-Spiele, kurz Fußballspiele. Dass das erste Treffen gegen den
Cannstatter FC am 12. Oktober 1893 mit 5:0 verloren ging, tat der
Begeisterung keinen Abbruch. Allerdings wurde auch das Rugby-Spiel
gepflegt. Ja, es gab Spieler, die beide Arten meisterhaft beherrschten,
z. B. P. Breckle. Was der Chronist über das Nebeneinander der beiden
Sportarten berichtet, ist höchst interessant: Dem Fußballmatch folgte
das erste Rugbyspiel gegen Cannstatt am 18. November 1893 und ging für
die 93er mit 41:0 verloren. Der Cannstatter FC und der FV Stuttgart 1893
riefen gemeinsam den Ludwigsburger Fußball-Club ins Leben. Sie spielten
an manchen Sonntagen auf dem kleinen Exerzierplatz im „schwäbischen
Potsdam" je ein Association- und ein Rugbyspiel und führten so die
Ludwigsburger in die Kunst des Fußballspielens ein. Ebenfalls in
Ludwigsburg kam das zweite Wettspiel im Rugby zwischen Cannstatt und dem
FV 93 zum Austrag; Cannstatt siegte 38:5.
Die weitere Entwicklung führte jedoch überraschenderweise dazu, daß sich
der Stuttgarter Fußball-Verein ausschließlich dem Rugby-Fußball widmete.
Durch Philipp Heineken, den alten Rugbypionier, der sich 1894 von dem
Cannstatter FC trennte und zum FV 93 übertrat, erhielt Rugby hier
mächtigen Auftrieb.
In Heineken fand dieser Sport nicht nur einen begeisterten Anhänger und
Verfechter, sondern auch einen ausgezeichneten theoretischen und
praktischen Lehrer, der seine Schüler mit den komplizierten Regeln des
Rugbyspiels näher´vertraut machte.
93er wurden in der unteren Stadt bald bekannt, und nach dem Zugang von .
Heineken, Meis, Letsche, Weißenburger, Gebrüder Löwenstein,
Pfänder,Lorenz, Hugo Stahl bestanden für die Aufstellung der ersten
Mannschaft keinerlei Schwierigkeiten.
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