Leeds oder der Alptraum des Jovo Simanic
Er war der vierte Ausländer: Der VfB-Rechenfehler:
Von der wahren Tragödie erfuhr er nachts (06/97)
Das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen."
Der Satz ist von Schopenhauer. Wenn Jovo Simanic darüber nachdenkt, über
das Glück und das Unglück, spürt er in seinem Kopf das Chaos. "Crazy",
sagt er. Crazy ist englisch, und man kann es mit wahnsinnig übersetzen.
Oder mit verrückt. Er will damit sagen, daß der Grat zwischen Glück und
Unglück verdammt schmal ist.
Am Abend des 30. September 1992 hat der VfB-Spieler Simanic in Leeds für
zwei Stunden ernsthaft geglaubt, er sei ein Günstling der Götter. Nach
dem Schlusspfiff im Stadion hätte er am liebsten jeden umarmt, und auch
später noch auf dem Flughafen. "Ich war", sagt er, "der erste Mann auf
Welt für Glück."
Bis zu diesem bösen Erwachen.
Jovica ("Jovo'') Simanic, 27, hat an besagtem Abend
Geschichte geschrieben: Er war in diesem Europacupspiel der
Landesmeister in Leeds der berühmte vierte Ausländer des VfB. Erlaubt
waren leider nur drei. Der Deutsche Meister, der für die nächste Runde
eigentlich schon qualifiziert war, wurde nachträglich am Grünen Tisch
von der UEFA zu einem Entscheidungsspiel auf neutralem Platz in
Barcelona verurteilt, verlor und flog aus dem Wettbewerb. Auch so kann
man als Spieler berühmt werden.
Ein paar Wochen nach dem Lapsus von Leeds sitzen wir
im VfB-Klubrestaurant, und Jovo Simanic kritzelt mit dem Fingernagel
undefinierbare Linien ins Tischtuch. Er schüttelt den Kopf. Er sucht
nach Worten, um zu beschreiben, was er noch immer nicht fassen kann.
"Alles war gut", sagt er und zählt den Ablauf der Dinge auf-. "Ich gut
gespielt, ich froh. Viel Lob bekommen von Trainer. Doch dann sagen Andy
Buck und Jolly Sverrisson plötzlich in Flugzeug: Du vierte Ausländer.
War wie Schlag vor Kopf." Der Heimflug in der Nacht war ein Alptraum
ohne Ende - und an Bord wurde ein großes Wort stark strapaziert:
Schicksal.
Schicksal?
Simanic weiß es besser. Was wirklich Schicksal ist,
das hat er in 'jener Nacht erst erfahren, als er wieder zu Hause in
Stuttgart war. Seine Frau Gordana nahm ihn in die Arme und sagte: "Dein
Bruder ist tot." Zelijko Simanic, der erst 32 war, litt an
Lymphdrüsenkrebs - und er starb in jenen Stunden, als sein jüngerer
Bruder in Leeds das glücklichste und unglücklichste Spiel seines Lebens
machte. "Ich habe geweint, ganze Nacht", sagt Jovo Simanic. An jenem 30.
September 1992 wollte er sein Glück machen - stattdessen stürzte er ab
in das seelische Loch.
Simanic hat beim VfB nicht viel Glück gehabt.
"Nur Pech", sagt er. Er zuckt mit den Schultern,
nimmt einen Schluck Cola und erzählt von den Träumen, die er hatte, als
er nach Stuttgart kam. Mit Slobodan Dubajic, dem Stuttgarter
Meisterlibero, hatte er früher bei Partizan Belgrad gespielt und war
sich sicher: "Ich schaffe das in der Bundesliga, einhundert Prozent."
Das war im Dezember 1991. Weil schon genug Ausländer
da waren, unterschrieb Simanic beim VfB als Vertragsamateur - so konnte
er sich, wenn ihn Christoph Daum nicht benötigte, sonntags bei den
VfB-Amateuren in der Oberliga in Form halten. Simanics Einstand verhieß
gleich nicht das Beste: Er traf gegen Pforzheim den Ex-Profi Karlheinz
Bührer, der schon früher beim SV Waldhof ein ziemliches Schlitzohr war,
mit dem Ellbogen - Elfmeter, Spiel verloren, Platzverweis. "Der ist
einfach umgefallen. War meine erste rote Karte in Karriere", sagt
Simanic.
Nein, sein Kapitel VfB stand von vornherein unter
keinem sonderlich günstigen Stern. Sie sperrten ihn für acht Spiele.
Danach kam er zurück und war gut drauf. Doch als überzähliger Ausländer
schaffte er es in der Bundesliga nur bis auf die Ersatzbank - und durfte
sich höchstens mal warmlaufen wie in einem Spiel gegen Kaiserslautern.
Bis Leeds kam.
Das war seine Chance. Denn der Trainer Daum wusste:
Nach dem 3:0Sieg im Stuttgarter Hinspiel brauchte er für das Rückspiel
gegen das britische Powerplay in der Luft, das der wilde Franzose
Cantona noch tatkräftig unterstützte, baumlange Burschen. Er schaute
sich seinen Serben an: 1,93 Meter, 88 Kilo - ein Bär. "Du fliegst mit
nach England", sagte Daum zu Simanic. Der war aus dem Häuschen.
Jovo Simanic: "Europacup, Fernsehen, großes Spiel für
Historie, großes Spiel für Karriere - ich habe gewusst gleich: ist jetzt
meine große Chance."
Sie kam, als es im VfB-Strafraum lichterloh brannte -
sieben Minuten vor Schluss. Leeds führte plötzlich 4:1, war im Luftkampf
haushoch überlegen, brauchte zum Weiterkommen nur noch ein einziges Tor
und deckte den VfB zu mit einem Hagel von Flanken. Daum mischte in der
Not hektisch die Karten und spielte Schicksal: Er zog den vermeintlichen
Trumpf Simanic.
Der Serbe über seine Bilanz als Turm in der Schlacht,
über seine sieben Minuten im Trikot des VfB: "Sechs Flanken weit aus
Strafraum hinausgeköpft, zweimal Ball mit Fuß weggeschlagen. Alles gut."
Mit dem Schlusspfiff schrie er sein Glück hinauf in den Himmel von
Leeds. Doch für diesen kurzen Moment im Paradies der großen Gefühle hat
er schwer gebüßt.
Am nächsten Morgen, beim Training, haben sie ihn
gejagt mit den Kameras und den Mikrophonen. Er hat nicht reagiert. Kein
Wort. Stumm, fast apathisch trottete er den TV-Leuten davon, die ihn
löchern wollten mit ihren Fragen zur Tragödie Leeds - von der wahren
Tragödie ahnten sie nichts.
"Ich habe nur noch an meinen toten Bruder gedacht",
sagt Simanic.
Leeds, sein Trauma. Dieser Abend, diese Nacht. Es war
wie ein dunkles, tiefes Loch, in das er hineinfiel - als ob ihm einer
den Boden weggerissen hätte unter den Füßen. Beim VfB hat er keine
zweite Chance bekommen. Selbst bei den Amateuren, in der Oberliga, war
er nach Leeds oft nur noch Ersatz. Warum- "Weiß nicht."
Simanic, das Symbol für die Sünde von Leeds-
"Ein bisschen, ja, ich glaube schon."
Christoph Daum hat nach diesem Abend von Leeds, wo er
den vierten Ausländer ein- und den VfB aus dem Meistercup auswechselte,
von Simanic die Finger gelassen wie von einer heißen Kartoffel.
Vielleicht wollte er einfach nicht mehr erinnert werden an diesen Mann,
der den schlimmsten Fehler seiner Trainerkarriere personifizierte - und
dessen sieben Minuten im VfB-Dress die Cannstatter nach
Experten-Schätzungen womöglich 25 Millionen Mark und auf Jahre hinaus
eine Rolle als feste Größe im lukrativen Europacupgeschäft kosteten.
Denn als der VfB wenig später die Chance hatte, den Meisterhelden
Matthias Sammer von Inter Mailand zurückzukaufen, fehlte plötzlich das
nötige Kleingeld. Den Deal machte Borussia Dortmund - und der Zug fuhr
für die nächsten Jahre ohne den VfB ab.
Und alles wegen dieser schwachen Minute von Leeds.
Jovica Simanic hat danach schnell erkannt, dass ihm
als Hauptfigur des Geschehens nur der Tapetenwechsel noch blieb - mit
dieser Vergangenheit, dem Brandmal Leeds auf der Stirn, hatte er beim
VfB keine Zukunft. "Ich muss weg", hat er gesagt, und kurz danach war er
es - der Mann, der am Abend des 30. September 1992 in Leeds berühmt
werden wollte.
Nur nicht so - als größter Rechenfehler in der Geschichte des VfB.
|