RITTER MIT DER EISERNEN FAUST
VON HANS BLICKENSDÖRFER (06/92)
Acht
Weltmeisterschaften und Reisen in alle Kontinente haben es mir
ermöglicht, alle Stars des Weltfußballs kennen zu lernen, und zwar nicht
nur im Spiel. Von Fritz Walter und Puskas ging das über Pelé Di Stefano,
Garrincha, Matthews, Charlton, Uwe Seeler und Gerd Müller bis zu Franz
Beckenbauer, und das sind nur ein paar Prachtblüten des festlichen
Straußes.
Aber mitten hinein stecke ich Robert Schlienz. Nicht,
weil ich ihn öfter gesehen habe als alle anderen, und auch nicht, weil
er vom VfB kommt, dessen Verkörperung er war. Sondern weil er ganz
einfach ein fußballerischer Riese gewesen ist. Als sich seine lange
Karriere dem Ende zuneigte, habe ich einmal bei einem Spiel im
Neckarstadion in die Luft - geguckt, und der Blick ist hängen geblieben
am smaragdenen Grün der Rotenberg Kapelle Wenn der Robert dachte ich
mir, einmal nicht mehr einläuft auf diesen Rasen, wird der verdorren..
Ein verrückter Gedankensprung war's, irrational eben, wie der Fußball
für uns ist die wir ihn lieben.
Wer Robert Schlienz nicht spielen sah, und das trifft
auf die meisten zu, die heute ins Neckarstadion gehen, der hat,
fußballerisch gesehen, das Pech der späten Geburt. Denn einen
Nachfolger, der seine immense Bedeutung für die Mannschaft erreichte,
hat er nicht gehabt.
Er ist Mittelpunkt, Zentrale des Spiels gewesen. Man
hat zu Hause einfach deshalb nicht verloren, weil Robert Schlienz es
nicht wollte. Und wenn es vorkam, dass einer den Lustlosen spielen
wollte, dann brauchte sich kein Trainer am Spielfeldrand hinlegen und
vor lauter Verzweiflung Gras fressen. Der Schlienz war es, der den
Lustlosen anpfiff und so antrieb, dass die Punkte eingefahren wurden.
Und die Methode funktionierte meistens auch auswärts. Selten genug hat
man da mehr als einen Punkt liegen lassen in den großen Tagen des Robert
Schlienz.
Er ist der Götz von Berlichingen des VfB gewesen, der Ritter mit der
eisernen Faust. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Denn er verlor
den linken Arm im Frühling einer Karriere, die größer als die aller
Mittelstürmer zu werden versprach. Und groß werden die Augen derer, die
sich daran erinnern, wie gegnerische Strafräume zu aufgeschreckten
Hennenställen wurden, wenn der Robert Maß nahm.
Und wenn - als der Arm weg war, aber der Schlienz
immer noch da war - eine Feier anstand, dann haute er mit der Kunsthand
auf den Tisch, dass die Gläser wackelten und sagte den urschwäbischen
Text des Götz dazu. So einer ist der gewesen, der dem VfB mehr als alle
anderen gegeben hat, ohne dafür mehr als andere zu nehmen. Das Pech der
frühen Geburt hat diesem Robert Schlienz vieles vorenthalten. Aber er
weinte ihm nicht nach. Seine Traumkarriere ist nicht von der Art derer
gewesen, die Reichtum allein im Geld sehen.
Viel vom Götz hat er in der Tat. Und viel zu blass
ist die Feststellung, er sei Kapitän der erfolgreichsten aller
VfB-Mannschaften gewesen. Unerschrockener, besessener Bandenchef ist
viel richtiger für seine 15 Spieljahre, von 1945 bis 1960, in denen der
VfB zwei Deutsche Meisterschaften und zwei Pokalsiege gewann. Aber es
gab die internationalen Wettbewerbe von heute nicht und kein großes
Geld. Was ein Schlienz heute wert wäre, ein junger, unbeschädigter? Das
steht in den Sternen. Sicher ist, dass er eine Nummer größer als
Klinsmann wäre. Geschwätz? Moment mal. Robert Schlienz ist die
allerhöchste Stufe von dem gewesen, was die Engländer "Goalgetter" oder
"Matchwinner" und die Franzosen "Gagneur" nennen. Und die Deutschen
"Siegertyp". Wie ein Spürhund hat er das Tor gerochen, und wenn er aus
fünf Chancen nicht drei Tore machte, hatte er seinen schlechten Tag, was
allerdings höchst selten passierte. Er war dabei, als die Süddeutsche
Oberliga im Herbst 1945 startete, und in 30 Spielen hat er 46 Tore
geschossen, ein Rekord, der nie gefährdet sein wird.
Und
auf die Gefahr hin, erneut provokant zu wirken: Er war im Strafraum des
Gegners eine noch größere Gefahr als Uwe Seeler und Gerd Müller. Aber
nicht einmal drei Jahre sind ihm gegeben gewesen, es für alle Zeiten
festzunageln. Am 14. August 1948 kam der schwarze Tag des Robert
Schlienz. Weil er zu spät zum Treffpunkt der Mannschaft gekommen war,
lieh ihm ein Freund sein Auto zur Fahrt nach Aalen, wo der VfB ein
Pokalspiel zu bestreiten hatte. Alte und klapprige Vorkriegsware war's,
und in einem riesigen Schlagloch passierte es. Der Wagen kippte um, und
der Ellenbogen, den Schlienz wegen der Hitze aus dem Fenster gehängt
hatte, wurde zermalmt. Zwei Stunden später war der Arm amputiert.
Für 99 von 100 Leistungssportlern wäre die Karriere beendet gewesen. Für
Robert Schlienz begann eine neue, die mit dem problematischsten aller
Handikaps befrachtet war. Er hat sie mit Angst begonnen, aus der eine in
der Geschichte dieses Spiels beispiellose Souveränität wurde.
Der Einarmige kam zurück. Entgegen aller Prophezeiungen von
medizinischen und sportlichen Experten. Die Operation geschah im August,
das Comeback im Oktober beim Meisterschaftsspiel gegen 1860 München. Und
voll war das Neckarstadion, weil keiner an das Wunder glauben mochte.
Es hatte zwei Väter. Der eine war der Betroffene
selbst, der andere hieß Schorsch Wurzer. Es hatte deshalb zwei Väter,
weil Wurzer zwei Söhne hatte. Den eigenen und Robert Schlienz. So hat
Fußball noch sein können, ehe die Merkels, Latteks und Konsorten kamen
und das Geld zum Maß aller Dinge machten. Heute kann man in ihren
fürstlich honorierten Kolumnen nachlesen, was für Kerle sie waren und
sind.
Für die zweite Schlienz-Karriere war keine
Boulevardpresse tauglich, sondern nur der Mensch Wurzer. Der hämmerte
ihm ein, dass ein VfB ohne Schlienz nicht denkbar sei.
Und sie übten jeden Tag bis in die Nacht hinein. Das ist hartes Brot,
wenn du ganz andere Bewegungsabläufe einstudieren und dich beim Sturz
abrollen musst, um nicht auf den Stumpf des Arms zu fallen.
Außerdem
musste der Amputierte aus den überfüllten Strafräumen herausgeholt
werden. Wurzer nahm ihn in die Position des Außenläufers zurück. Zur
Mutter Theresa wurde er, die hilfreich und feinsinnig zugleich ist. "Du
hast das Gefühl für die Entwicklung eines Angriffs, und wenn du nicht
ganz vorne stehst, dann weißt du trotzdem, welches Futter die da vorne
brauchen. Und wenn ihnen das, was du ihnen schickst, nicht reicht, dann
gehst du eben selber vor!"
Und Schlienz begriff es nicht nur, er brachte es
fertig und schoss sogar Tore. Auch dann, als er als eine Art von
Libero-Stopper ins Abwehrzentrum zurückging. Nie hat der VfB einen
Kapitän mit dieser Ausstrahlungskraft gehabt. Alfredo di Stefano hat mir
nach einem Spiel des VfB gegen die spanische Nationalelf in Madrid
gesagt: "Der beste Mann auf dem Platz war der Einarmige. Was ich von dem
gesehen habe, war für mich bis jetzt unvorstellbar!"
Und dann hat Sepp Herberge Robert Schlienz die Krone
aufgesetzt, die wohl nie mehr einer tragen wird, der dieses Handikap
trägt. Er hat ihn in die Nationalmannschaft berufen zu den Länderspielen
gegen Nordirland, Holland und England.
"We shall never see his like again", haben die
Engländer gesagt, als Stanley Matthews abtrat. Und auch wir werden nie
mehr einen Robert haben.
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