DER FEUERKOPF
VON OSKAR BECK (06/92)
Matthias
Sammer schüttelte sich den Kopf vom Hals: "Wenn wir verloren hätten -
wir wären die Deppen der Nation gewesen. Noch eine Stunde nach dem
Schlusspfiff glühte er wie eine Osram-Birne. Wenn dieser Mann unter
Strom steht, ist er gefährlich - das hatten die Stuttgarter Kickers
schmerzlich erfahren.
Saison 1991/92. VfB gegen Kickers. Es steht 0:1, und
die Roten schweben gegen die Blauen über dem Abgrund. Sie sind dabei,
drei Dinge auf einmal zu verlieren: Das Spiel, die Deutsche
Meisterschaft und ihr Gesicht. Noch dreißig Minuten. Bundestrainer Berti
Vogts steht auf der Tribüne auf und geht. Er hat genug gesehen - und
verpasst alles.
Sammer-Time.
Wahrscheinlich spielt Matthias Sammer an diesem Nachmittag die
verrückteste halbe Stunde seiner Karriere. Als nichts mehr geht, wird
dieser Mann zum Krieger. Er puscht die Atmosphäre hoch. Vor der
Haupttribüne fängt er seinen Psycho-Kampf mit den Kickers-Fans an. Sie
beleidigen ihn, er sie. Auf dem Feld haut er die Ellbogen raus, jagt den
VfB in den Angriff, gibt zauberhafte Vorlagen, spuckt Gift und Galle.
Unglaubliches geschieht. 1:1. 2:1. 3:1.
Sammers Spiel. Sammers Sieg. "Ich hätte mich sonst am
Montagmorgen nicht zum Bäcker getraut", sagt er hinterher.
Matthias Sammer. Früher Dynamo Dresden. Er war schon
Denker und Lenker der DDR-Auswahl. Nach der Wende machte er rüber, bei
Bundes-Berti war er der erste gesamtdeutsche Nationalspieler, und der
VfB wurde durch seinem Sachsen-Star am Ende nicht nur reich (weil Inter
Mailand mehr als zehn Millionen Mark Ablöse überwies), sondern vor allem
glücklich. Ohne Sammer wär's mit der Meisterschaft nämlich nichts
geworden. Er war der Antreiber, der Leithammel der Bandenchef Ein
Allerweltskerl. Er half hinten aus. Er grätschte durchs Mittelfeld. Er
ordnete das Spiel. Er schoss Tore.
"Sammer", hatte einst schon Willi Entenmann gesagt
und kopfschüttelnd in ein belegtes Brötchen gebissen, "ist ein Uwe. Der
spielt sogar im Training verrückt, wenn er verliert."
Im Spiel erst recht. Damals, in seinem ersten Jahr, stand er mit dem VfB
in St. Pauli mal bei Halbzeit mit 0:2 in der Kreide. Beim Pausentee
krachte es.
Sammer: "Ich war auf 180. Ich hab' losgelegt: jetzt passt mal auf, jetzt
geht's hier aber zur Sache! Raus und dann los! Wir zeigen's allen, auch
diesem Armleuchter mit der Pfeife. Wir zeigen, wer wir sind, kapiert!"
Endstand 2:2.
Einmal war Sammer verletzt. Wie es passierte- Nun, er
trainierte im Wald. Trabte durchs Unterholz. Als er wieder herauskam,
tat ihm die Wade weh, und beim VfB kursierte das Gerücht, er sei einer
Wildsau unterwegs in den Schritt gegrätscht - wie auf dem Spielfeld dem
Gegner. Der rotblonde Feuerkopf
Was das heißt, wissen wir von Boris Becker - der
beißt in der Hitze des Gefechts brüllend in seinen Schläger oder hechtet
über den Platz. Wenn Sammers Temperatur stieg, gab's gelbe Karten. Oder
rote. Oder er rempelte sich, wie nach einer Niederlage in Dresden,
mitten durch ein Kamerateam ("Lasst mich in Ruhe!"). Er hat sich auch
mit Berti Vogts angelegt. In seinen zwei Jahren beim VfB war alles drin
- wie in einer schwäbischen Maultasche. Sogar im letzten Spiel, das die
Meisterschaft brachte, flog dieser Mensch noch vom Platz. Er war wie ein
Knallfrosch mit Zündschnur - wehe, es hielt einer ein Streichholz hin .
Frage: Was ist Ihre größte Stärke, Herr
Sammer?
"Ich bin sehr schnell von null auf hundert."
Und Ihre größte Schwäche-
"Wie gesagt - ich bin sehr schnell von null auf hundert."
Cool ist er nur ohne Ball. Im Spiel brodelt er, da
dampft auf großer Flamme der Kessel der Leidenschaft - und manchmal
kocht er über. Matthias Sammer. Er war der (Hitz-) Kopf des VfB. Genau
richtig
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