KALLI BARUFKA ODER DIE SEHNSUCHT NACH DEN LINKEN
VON HANS BLICKENDÖRFER
Den
Kalli Barufka habe ich vor allen anderen VfB-Spielern kannengelernt. Das
ist im garstigen Winter von 1946 gewesen im behelfsmäßigen
Einwohnermeldeamt meiner Heimatstadt Pforzheim. Für einen, der sich wie
ich selbst aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen hatte, war
es unerhört schwierig, ordentliche Papiere zu bekommen. Aber ich bin auf
einen Beamten mit Herz gestoßen, der auch seine Kriegserlebnisse hinter
sich hatte und der seine Vorschriften durch selbständiges Denken
ersetzte. Staatliches Denken war ihm wurscht. Außerdem gab es gar keinen
Staat. Aber es gab den Fußball. Und der hat an diesem Tag ein ganz
spezielles und fast unglaubliches Tor für mich geschossen. Es entsprang
einem völlig unbeabsichtigten und unvorhergesehenen Doppelpass mit Karl
Barufka.
Als ich in das Zimmer hineinkam, in dem Schicksale
entschieden wurden, wie es heute bei Asylanten der Fall ist,
verabschiedete sich ein hagerer blonder junger Mann von dem Herrn hinter
dem wackligen Schreibtisch, der den Besucher entließ mit den Worten "und
nun viel Glück Herr Barufka in Pforzheim". Dann schälte er sich
umständlich einen grünspanigen Dienstapfel, ehe er sich mir widmete.
Mein Fall, das zeigte sich schnell, war schwieriger. Aber er entwickelte
sich sehr schnell günstig, als ich ihn fragte, ob das der Barufka von
Schalke gewesen sei. "Klar", grunzte er schmatzend und schob mir einen
Apfelschnitz über den Tisch. "Sie verstehen was vom Fußball?"
"Klar", sagte ich. "Ich habe in der Jugend beim Club gespielt." Man muss
dazu wissen, dass der 1. FC Pforzheim in dieser Stadt nach Nürnberger
Vorbild nur Club genannt wird. Er ist immer noch mein Club, aber an
diesem Tag ist er größer und bedeutender als alle Klubs der Welt
geworden.
"Kommt der Barufka", fragte ich, "zum Club?"
"Klar", sagte er. "Sie haben ihn gekauft mit 20 Uhren
und einer Wohnung. Die sind rar in einer zerbombten Stadt, wie Sie
vielleicht wissen."
Ich nickte, weil ich in einem Keller hauste, und bekam einen neuen
Apfelschnitz. Und wir waren immer noch bei der Vorrede, die sich als
sehr nützlich erweisen sollte.
Die Vereinsmäzene der Gold? und Uhrenstadt hatten sich zusammengetan, um
dem Club ein Ass zu bescheren. Für Pforzheimer Fabrikanten war dieser
Barufka aus Schalke ein lupenreiner Fußball-Diamant und 20 bruch- und
wasserfeste Armbanduhren waren 1946 ein Kapital.
Sache ist auf jeden Fall gewesen, dass, mit Hilfe des Fußballs, auch
mein Fall klar war, als wir den Apfel verputzt hatten. Ein Freund des
Fußballs begegnet einem anderen Freund des Fußballs anders als anderen
Leuten. Und selbstverständlich bin ich, nachdem ich kein papier- und
rechtloser Asylant mehr war, zu jedem Heimspiel ins Brötzinger Tal
gelaufen, um Barufka zu sehen. Per pedes, wie früher als Bub.
So lustig wie in der Kindheit war's freilich nicht.
Einen Beruf muhte ich mir erkämpfen, zumal ich schnell erkannte, dass
ich mich nicht messen konnte mit den Ganoven des Schwarzen Markts. Und
als ich Volontär bei der Sportwelt in Stuttgart wurde, der ersten von
den Amerikanern genehmigten westdeutschen Sportzeitschrift, wechselte
Kalli Barufka vom 1. FC Pforzheim zum VfB. Die süddeutsche Oberliga,
mitbegründet vom VfB-Präsidenten Dr. Fritz Walter, konnte auf einen wie
Barufka nicht verzichten, und die Pforzheimer konnten und wollten einem
wie diesem den Weg in die höchste Spielklasse nicht verbauen. Spieler
von Klasse gehörten in die oberste Klasse, und die Währungsreform nahm
den Uhren den Wert, die sie 1946 noch gehabt hatten.
Barufkas Wert für den VfB der Fünfzigehrjahre ist
nach heutigen Begriffen in der Buchwald-Sammer-Klasse anzusiedeln. Es
hat im deutschen Fußball jener Zeit nichts besseres gegeben als die
Mittelachse Schlienz -Retter - Barufka.
Der Kalli freilich war ein Einzelgänger. Es ist vorgekommen, dass er
sich in den Bus setzte und die Kollegen fragte, gegen wen man denn heute
spiele. Er war einer von denen, die im Vorfeld jenseits von jeder
Gefühlsregung sind, aber dann, wenn sich das richtige Feld vor ihnen
auftut, "explodieren".
Bei ihm lässt sich trefflich diskutieren über Macken
und Vorzüge, die dem geborenen "Linkser" angeboren sind, diesen
Linksfüßler, deren Bogen sich beim VfB über Barufka und Blessing zu
Michael Frontzeck spannt.
Ihre Eigenwilligkeit kann Spiele ebenso aufbauen wie kaputtmachen. Sie
sind, weil man sie im eigentlichen Leben viel zu oft in ein Korsett
zwingen will, das ihnen nicht behagt, im Spiel Freibeuter, die keine
Gelegenheit versäumen, um zu beweisen, dass sie mehr können als jene,
die glauben, alles recht zu machen, allein weil sie geborene "Rechtsler"
sind. Und auf die Gefahr hin, belächelt zu werden, behaupte ich, dass
sich Spiel und Politik da widerspiegeln. Die Linken der Politik haben
viel Ähnlichkeit mit den Linken des Spiels.
Er Kalli Barufka, dessen 70. Geburtstag 1991 zu
feiern war und in dessen linkem Fuß mehr Dynamik steckte als in dem von
Ferenc Puskas, war nicht nur Fels in der Brandung, er konnte auch aus 30
Metern, wo Puskas noch bei seiner unnachahmlichen Vorbereitungsarbeit
war, einen dieser Schüsse loslassen, die so fulminant sind, dass sie
eigentlich eine Rauchfahne nach sich ziehen müssten.
Brüder im Geist sind da Blessing und Frontzeck. Die Linkser sind eine
Minorität. Deshalb lehnen sie sich im Spiel, unterbewusst oder auch
nicht, so oft gegen das Diktat der Rechtsfüßler auf. Und deshalb geben
sie oft genug das Salz in die Suppe. Man denke nur an einen Wolfgang
Overath. Er hat anders gespielt als Kalli Barufka, aber wenn dem 1. FC
Köln heute ein neuer Overath erwüchse, wäre es genauso, wie wenn dem VfB
ein neuer Barufka zuflöge. Denn unstillbar und recht ist die Sehnsucht
des Fußballs nach den unberechenbaren Linken.
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