"SCHILLBÄR!"
VON REINER SCHOLZ (06/92)
Momentan
befindet man sich wieder im Zustand der Annäherung. Aber nur
geographisch. Von Stuttgart aus sind es bloß rund 200 Kilometer bis
Straßburg. Dort hat Gilbert Gress mal wieder Erfolg. Racing ist in die
Erste Liga aufgestiegen. Trainer Gress ist der König. 15 000 Zuschauer
hat er schon in der Zweiten Liga pro Spiel ins schmucke Meinaustadion
gelockt. Straßburg leidet besorgniserregend an Fußballfieber. Der VfB
wünscht weiterhin alles Gute. Der Gruß kommt von Herzen.
Gilbert Gress. Es ist schon komisch. Kein anderer
Ausländer, der je das Trikot mit dem Brustring getragen hat, hinterließ
derart bleibende Eindrücke. Dabei hat Gress längst seinen 50. Geburtstag
gefeiert. Und seine Fußballshow, an die man sich hier so gern erinnert,
liegt auch schon weit mehr als zwanzig Jahre zurück. Von 1966 bis '71
spielte Gress beim VfB. In Zahlen: 149 Bundesligaspiele, 24 Tore. Aber
das sagt nichts aus über Gress. Der Mann war ein Genie. Schwierig,
sensibel, aber am Ball ein Ass. Gress, der Künstler, das konnte jeder
sehen. Der eigenwillige Franzose war der erste Beatle in der Bundesliga.
Aber das mit den langen Haaren konnte auf Dauer nicht gut gehen. Trainer
Albert Sing schickte Gress bekanntlich im Zuge disziplinarischer
Maßnahmen zum Frisör. Gress lachte- und war innerlich tief gekränkt. Für
die VfB-Fans war Gilbert nur "Schillbär".
Mehr Zuneigung ist hierzulande kaum möglich. Auch sein Abgang war
bezeichnend. Bei Nacht und Nebel und gegen seinen Willen wurde er an
Olympique Marseille verkauft. Der VfB brauchte dringend Geld, die Fans
dringend Trost.
Die Liebe verging nie, weil es nie einen richtigen
Abschied gegeben hat. Gress, das Temperamentsbündel, mauserte sich zum
ehrgeizigen und erfolgreichen Trainer. Disziplin geht ihm über alles.
"Manchmal", verriet er neulich, "telefoniere ich noch mit Albert Sing,
wir verstehen uns besser als früher." Mit Xamax Neuchâtel wurde er
zweimal Schweizer Meister, mit Racing Straßburg 1979 Französischer
Meister. Immer wenn der VfB auf Trainersuche war, fragte Präsident
Gerhard Mayer-Vorfelder bei Gress an. "Es ist wie verhext", bedauert
Gress, "wenn der VfB einen Trainer brauchte, hatte ich noch einen
Vertrag. War ich frei, brauchte der VfB keinen Trainer."
Jetzt hat der VfB Christoph Daum. Gress verfolgt in Straßburg neue
Ziele. Es sind nur 200 Kilometer. Trotzdem ist es eine verdammt große
Entfernung. Gress und der VfB - es ist wie verhext.
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