DER VERHINDERTE WELTMEISTER
VON MARTIN HÄGELE (06/92)
Die
vierte Meisterschaft des VfB hat Erich Retter so erlebt wie immer an den
Samstagen, wenn seine Nachfolger auswärts spielen. Mit dem Lappen in der
Hand, Radio an, beim Autoputzen. Oder wie er es sagt: "Neben der
Wagenpflege." Da kam dann der Jubel aus Leverkusen.
Den etwas gehobenen Ausdruck fürs Schrubben und Reinigen eines Pkw hat
Erich Retter aus seinem alten Beruf übernommen. Und es ist anzunehmen,
dass jene Postkarte, die bis Sommer '84 in der Tankstelle an der
Mercedesstraße über der Kasse hing, nun an der Wand der Retterschen
Privatgarage einen Platz gefunden hat.
Die Postkarte mit dem farbigen Konterfei von Sepp Herberger. Viele der
jungen Leute, die hier ihren Sprit bezahlten, konnten mit dem Kopf des
legendären Bundestrainers nicht viel anfangen. Und noch weniger kannten
die Story des Tankwarts Herberger, der Deutschland zum
Fußball-Weltmeister gemacht hat und Kerle - wie Fritz:, Walter: und
Helmut Rahn zu Göttern einer kriegsgebeutelten Generation .Einer dieser
Helden von Bern, die in die Fußball-Geschichte eingingen, wäre auch
Erich Retter gewesen.
Wäre, wenn. Wenn am 25. April 1954 beim
Einweihungsspiel des Basler St. Jakobsstadion dem deutschen
Abwehrspieler Retter nicht ein Innenmeniskus gerissen wäre. Zehn Wochen
später wurde Deutschland Weltmeister. Mit Jupp Posipal aus Hamburg als
rechtem Verteidiger. Retters Ersatzmann, Retters Stellvertreter
kassierte den Ruhm ab, den der Stuttgarter gepachtet zu haben schien.
Denn der knallharte und schnelle Verteidiger war bei Sepp Herberger nie
zur Diskussion gestanden.
Erich
Retter war ein Mann nach Herbergers Geschmack gewesen. Aufrecht und ein
Schaffer. Und er hat auch seine Zeit gebraucht, um den Schock zu
verwinden, daß die andern plötzlich Weltmeister waren. Und er nicht.
"Die Zeit kann man nicht zurückdrehen", sagt Retter zu diesem Thema.
Hätte er ewig trauern sollen?
Für seine 14 Länderspiele und auch ein bisschen als Trost für sein Pech
hat er vom Deutschen Fußball-Bund eine goldene Uhr geschickt bekommen.
Und sein Klub griff ihm beim Aufbau seiner beruflichen Existenz unter
die Arme. Eben mit jener Tankstelle, ein paar Schritte vom
Neckarstadion.
Jede Menge Spieler und Trainer hat er zum VfB kommen
und gehen sehen, und oft hat er sich mit ihnen beim Tanken unterhalten.
Mit Gilbert Gress genauso wie mit den Förster-Brüdern. "Aber auch der
Herr Schwemmle ist immer mit den VfB-Dienstwagen gekommen."
Der Schwatz zwischen Tanksäule und Kasse, mit diesen
Kontakten hat er sich immer auf dem laufenden gehalten, was bei seinem
Klub so geht. Im Neckarstadion hat man den Mann, der zu seiner Zeit ein
Star war, ohne dass man diesen Begriff da schon kannte, dagegen nur
selten gesehen. "Ich konnte doch nicht vor dem dicksten Geschäft
fortrennen", erzählt er, die Leute wollten doch bei Bundesligaspielen
bei mir parken und tanken. Und kurz vor dem Anpfiff, ungewaschen da
rübergehen, das wollte ich auch nicht."
Erst nachdem er kurz vor seinem Sechzigsten in Ruhestand gegangen ist,
wurde Erich Retter wieder zum Stadionbesucher. Doch weil Privatier
nichts ist für einen, der körperlich und geistig gut beieinander ist",
hat Erich Retter wieder angefangen zu arbeiten. In der Stahlbaufirma
Heil in Wangen leitet Retter das Zentrallager und den Fuhrpark. Und alle
14 Tage samstags nimmt er seinen Chef mit zum VfB.
Als sich am Tag der großen Meisterschaftsfeier auch
das Fernsehen des alten Recken erinnerte, der an den Titeln '50 und '52
so großen Anteil gehabt hatte, sagte der 67jährige die Einladung ab.
Retter: "Die haben kurz vor zwölf angerufen und wir waren schon privat
zum Mittagessen verabredet. Außerdem soll die feiern, die in Leverkusen
den Meister gemacht haben, die haben das verdient. Wir Alten, wir wären
in diesem Trubel doch eh nur rumgestanden wie bestellt und nicht
abgeholt." Gradraus gedacht und gesagt. So ist Erich Retter immer
gewesen. Er hat keine Schlagzeilen gebraucht.
"Sehen Sie", sagt er, "diejenigen, die Weltmeister geworden sind, die
haben sich doch alle hinterher geändert."
Nicht alle zu ihrem Vorteil.
Heute möchte Erich Retter mit keinem tauschen. "Ich
bin zufrieden", sagt er, "ich habe das Beste aus meinem Leben gemacht.
Ich habe schöne Stunden im Fußball, vor allem mit dem VfB erlebt und
durch den Sport ist auch mein Geschäft gut gelaufen." Der Rückblick
eines Mannes, der im wahrsten Sinne des Wortes an der Durchgangsstraße
des Ruhms gelebt hat. Ein Blick zurück ohne Zorn.
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