DER SCHWABENPFEIL
VON LUDGER SCHULZE (06/92)
Als
sein Bruder schon Weltmeister war, rackerte Dieter Hoeneß noch in den
Strafräumen der Amateurliga. Mehr freilich hielt er sich in den
Studierzimmern der Uni Tübingen auf, an der er Englisch und Sport belegt
hatte. Und wäre nicht Hans Blickensdörfer gewesen, wer weiß, ob Dieter
Hoeneß nicht heute im Sportunterricht den perfekten Kopfstoß
demonstrieren würde. Dem Herausgeber dieses Buches jedenfalls war der
lange Blonde, der sich in der Jugend als Torwart der württembergischen
Auswahl hervorgetan hatte, es dann aber vorzog, den einstigen Kollegen
selbst die Bälle um die Ohren zu schießen, als Torjäger des VfR Aalen
aufgefallen. Hans Blickensdörfer informierte den Präsidenten Gerhard
Mayer-Vorfelder, und der überzeugte - den Studiosus von den Vorzügen des
Profilebens.
Dieter Hoeneß war sich seiner Sache nicht gerade
sicher. Der Schatten des älteren Bruders und schließlich ist so eine
bürgerliche Existenz ja auch nicht zu verachten. Aber Hoeneß wäre nicht
Hoeneß, wenn er die Herausforderung nicht angenommen hätte. 1975
unterschrieb er einen Vertrag beim VfB, die Verhandlungen fanden im
Münchner Haus von Uli statt. Der legte für seinen im Profi-Business
unerfahrenen Bruder auch gleich die Höhe der Ablösesumme fest, "damit
ich - im Falle eines Falles - leichter zu einem anderen Verein wechseln
konnte". Der Fall sollte eintreten, doch davon später.
In seinem ersten Stuttgarter Jahr lief es für Dieter
so lálá in der ausgebufften Truppe um Hitzfeld, Brenninger und Weller.
Als es mit dem Wiederaufstieg in die Erste Liga nicht klappte, wurde
Trainer Jürgen Sundermann geholt. Und damit begannen große Zeiten - für
den VfB und für Hoeneß. "Es war eine ungeheuere Begeisterung, die
Sundermann entfacht hat", erinnert sich der Mann, der sich schnell den
Respekt der Zuschauer und vor allem das Gütesiegel "Schwabenpfeil"
erwarb. Schwabenpfeil? Weil niemand so blitzartig und kraftvoll in die
Flanken der Verteidiger Martin und Elmer, in die Vorlagen von Hansi
Müller oder Walter Kelsch stieß. Das war der Stil des VfB: offensiv, was
das Zeug hielt, und in der Mitte lauerte Hoeneß. Er könne mit seinem
Schädel, hieß es, auch den Pfosten spalten, wenn nötig.
In der stark verjüngten Mannschaft herrschte eine
tolle Stimmung. Und wenn doch wieder mal die Leute auf der Galerie oder
die Presse an den technischen Fähigkeiten des Stürmers herummaulten,
stärkte Sundermann ihnen den Rücken. Doch hinter dem Hurrastil steckten
auch Schweiß, viel Schweiß, und Disziplin. In der Saisonvorbereitung zum
Beispiel konnte der nette Sundermann auch zum Leuteschinder werden.
"Einmal im Schwarzwald haben wir Bergläufe gemacht. Wo andere mit Seil
und Haken hoch sind, mussten wir rennen", weiß Hoeneß noch. Die
Plackerei machte sich bezahlt, der VfB stieg endlich wieder auf.
Und
wurde auf Anhieb Vierter, wobei er einen bis heute gültigen Rekord
aufstellte: 54 000 Zuschauer kamen im Schnitt zu jedem Heimspiel,
Sundermanns Bubentruppe brachte das ganze Schwabenland auf Trab. Nie
zuvor und nie danach entfachte eine VfB-Mannschaft eine derartige
Euphorie. In der nächsten Saison, 1978/79, folgte die Belohnung in Form
der Vizemeisterschaft, nur ein Pünktchen hinter dem HSV Zu
Nationalspielern wurden zu jener Zeit die Förster-Brüder, Bernd Martin,
Walter Kelsch, Hans Müller - und Dieter Hoeneß, der in zwei Partien
gegen Irland und Island seinen durch 25 Bundesligatreffer erworbenen Ruf
als Torjäger auch in der Nationalmannschaft durch drei Schüsse ins
Schwarze erhärtete.
Natürlich war das seinem Bruder, der gerade als
Manager bei Bayern München angefangen hatte, nicht verborgen geblieben.
Uli brachte Dieter quasi als Morgengabe mit - für die einigermaßen
lächerliche Ablösesumme von 175.000 Mark. Die hatte der ältere Hoeneß,
siehe oben, für Dieter ausgekungelt. Und angesichts der Tatsache, daß
dieser Wechsel ,der Transfer der Bundesliga in diesem Jahr" war, wie
Dieter selbst sagt, kann man den Zorn von Präsident Gerhard
Mayer-Vorfelder durchaus verstehen, der von "Landesverrat" sprach. Doch
der persönlichen Zuneigung der beiden hat dies letztlich keinen Abbruch
getan.
Dieter Hoeneß tat sich in München zunächst sehr
schwer, eingeklemmt zwischen den Stars Breitner und Rummenigge. Doch mit
seiner Ehrlichkeit und Beharrlichkeit setzte er sich auch dort durch.
"Mr. Europacup" nannten sie ihn nun, weil er speziell in den großen
internationalen Spielen der Münchner große Leistungen bot. Und der Mann,
der sich von einem Max Merkel als "Briefbeschwerer" oder von Paul
Breitner als "Antikicker" bezeichnen lassen musste, erzielte immer
wieder Tore von technischer Brillanz und Intelligenz, die in ganz Europa
Verblüffung hervorriefen. Irgendwann auch in Kitzbühel, wo Teamchef
Franz Beckenbauer im Jahr 1986 verzweifelt nach einer seltenen
Fußballermischung suchte: nach einem Mittelstürmer, der gleichzeitig
auch eine ungewöhnliche Persönlichkeit sein sollte.
Und so kam Dieter Hoeneß in relativ hohem
Fußballeralter noch zur WM nach Mexiko und dort ins Finale gegen
Argentinien (2:3).
Daß die Bayern seit seinem Rückzug vom aktiven Sport
mehr und mehr in Schwierigkeiten geraten sind, der VfB Stuttgart
hingegen besser und besser und sogar Meister geworden ist, hängt gewiss
mit Dieter Hoeneß zusammen, der an den Ursprung seiner Profikarriere
zurückgekehrt ist. "Hier hab' ich mich immer wohlgefühlt, bei den Leuten
war ich stets beliebt. Selbst in den Jahren, in denen ich mit den Bayern
nach Stuttgart gefahren bin, habe ich hier viel menschliche Wärme
gespürt." Könnte sein, daß dies noch ein paar Jahre so bleibt."
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